Rede von Ministerpräsident Matthias Platzeck zur feierlichen Namensgebung „Reimar-Gilsenbach-Saal“ des Umweltbildungszentrums im Haus der Natur anlässlich des 5-jährigen Bestehens des Hauses am 10. September 2007

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich habe es geahnt, dass Reimar Gilsenbach einmal auf besondere Weise nach Potsdam zurückkommt.

Ich habe es geahnt seit jenem Abend des 15. Novembers 1989, als er am Beginn der Wendezeit an unserer denkwürdigen Öko-Nacht teilnahm. In seinen Aufzeichnungen hat er notiert: „Wir liefen zum Potsdamer Stadion hinaus und waren uns durchaus nicht sicher, ob die Volkspolizei nicht doch noch eingreifen werde. Ein zwiespältiges Gefühl: Auf der einen Seite eine gewisse Beklemmung, ob es gut gehen wird, auf der anderen Seite ein ungeheures Gefühl der Befreiung.“

Als er ans Mikrofon trat, war von Beklemmung nichts zu spüren. Er war wieder der, den ich vier Wochen vorher beim „Brodowiner Gespräch“ an der Ostsee nun auch persönlich kennengelernt hatte: der Freigeist, der Wahrheitsbesessene, der Vordenker und Mahner. Mit fester Stimme rief er den 3.000 Potsdamern zu: „Die Umweltdaten sind frei! Sie zu verheimlichen war eine zutiefst antidemokratische, zutiefst auch antisozialistische Maßnahme“.

Und die Potsdamer quittierten mit großem Beifall, dass dieser Graukopf da vorn, dieser Reimar Gilsenbach, einen Gesellschaftszustand einforderte, in welchem das freie Wort, die ungeschönte Information, wirkliche Aufklärung, kurz: die Transparenz und Öffentlichkeit aller öffentlichen Belange zentrale Kriterien einer freien Gesellschaft sind.

Ab heute, knapp 7 Jahre nach Reimars Tod, trägt ein wichtiger öffentlicher Ort der Aufklärung, der Information, der Bildung und des freien Wortes, das Umweltbildungszentrum im Haus der Natur, seinen Namen. Es ist eine gute Fügung, dass es ein Potsdamer Ort und auch ein Ort der Ehrenamtlichen ist. Dass - ich darf sagen - mein Freund Reimar Gilsenbach auf solche ehrenvolle Weise nach Potsdam zurückkehrt, berührt mich auch persönlich sehr tief.

Und Reimar? Hätte es den asketisch Bescheidenen, den Gegner jeglichen Personenkultes eigentlich gefreut, dass ein solcher öffentlicher Ort seinen Namen trägt? Würde er nicht abwehrend die Hände heben: zuviel der Ehre?

Ich denke, er würde von Herzen dieses Haus der Natur begrüßen, wenn es seine Ideen und Visionen lebendig hält, wenn es seine Ziele und Bestrebungen konsequent weiter verfolgt.

Ich denke, er würde schon deshalb zustimmen, weil er es als späten Triumph über diejenigen empfinden würde, die ihn zu Lebenszeiten bedroht, verfolgt und verleumdet haben.

Sicher würden seine Augen bei diesem Gedanken wieder schelmisch durch die dicken Brillengläser blitzen, so, wie wir ihn so oft erlebt haben.
Ich bin überzeugt: Er würde sich einfach freuen, dass ihn seine jüngeren Freunde aus „seiner grünen Bewegung“ - für ihn immer eine Bewegung der Freisinnigen, der Gerechten, der Demokraten, der Solidarischen - nicht vergessen haben, ihm verbunden bleiben und ihn auf ihrem Wege mitnehmen wollen. Ein Umweltbildungszentrum in Brandenburg „Reimar Gilsenbach“ zu nennen, war eine gute Idee.

Ich habe die Entwicklung des Hauses mit Interesse verfolgt. Es hat einen guten Weg genommen. Weil es die Verbände gestärkt und dem „grünen“ Ehrenamt einen guten Platz in Brandenburgs Hauptstadt erobert hat. Kurzum: Es ist aus dem Leben von Land und Stadt nicht mehr wegzudenken. Ich gratuliere allen „Mittätern“ dazu. Aber zurück zu der Idee, Reimar Gilsenbachs geistigem Erbe hier eine Heimstatt zu geben: Dank denen, die sie hatten und umsetzten. Dank und Respekt auch Ihnen, liebe Hannelore Gilsenbach, dafür, dass Sie mit viel Vertrauen in die Umweltvereine seinen guten Namen hergeben und vor allem auch dafür, wie Sie nach seinem Tod unbeirrbar den gemeinsamen Weg weitergehen. Denn das ist das Wichtigste: Reimar Gilsenbachs Weg weiterzugehen.

Für das Umweltbildungszentrum im Haus der Natur und damit für das Haus insgesamt ist das von nun an besondere, feststehende Verpflichtung.

„Was war denn das eigentlich, Reimar Gilsenbachs Weg?“, werden die Jüngeren fragen, deren Zeitgenosse er schon nicht mehr ist. Und wir, die wir uns als seine jüngeren Weggefährten verstehen dürfen, wie bringen wir Reimar Gilsenbachs Credo auf den Punkt? Nein, es gelingt uns nicht. Was daran liegen mag, dass es da im Grunde keinen einzelnen Punkt gibt, sondern nur einen Lebensprozess mit wiederkehrenden, vertrauten Klängen, nur ein Gesamtbild! Das hat viele Facetten.

Also immer noch die Frage: Wie erkläre ich denn in prägnanter, knapper Form, in welche Tradition sich das Haus der Natur mit dieser Namensgebung nun stellt?

Zum Glück – will man fast sagen - gibt es da ja auch die Stasi-Akten, in denen ausführlich über Reimar berichtet wurde. Da finden wir tatsächlich eine sehr interessante Wesensbeschreibung. „Alles in allem ...“, ist da zu lesen, „ ... ist seine Theorie ein Mischmasch aus falsch verallgemeinerten eigenen Erfahrungen, aus übertriebenem Ökologismus, aus Pazifismus, Eurokommunismus, Pseudo-Marxismus und Humanitätsduselei“.

Wenn wir dieses Kurzpsychogramm – in der Stasi-Terminologie geradezu ein vernichtendes Urteil - vom Kopf auf die Füße stellen, sind wir einem Wesensabbild von Reimar Gilsenbach schon recht nahe.

Ich will mal versuchen zu übersetzen:

Seine Erfahrungen mit den verschiedenen Staatswesen, die er, bei den „fröhlichen Wilden“, einer „Aussteigerkolonie“ am Niederrhein, aufgewachsener „Freisasse“ mit Herz und Seele durchleben musste, machten ihn zum erbitterten Staatsskeptiker. Den Staat hatte er eh und je als Bedrohung erlebt. „Zwischen Mensch und Natur hat sich der Staat gezwängt, ein Unmaß an Bürokratie“, ist in seinem letzten, seinem 25. Buch zu lesen. Aber Reimar Gilsenbach wäre nicht der Kämpfer für eine „neue Erde“ gewesen, wenn der leiderfahrene Skeptiker nicht auch der hochmotivierte Hoffende gewesen wäre.

Weil sein Glaube an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sein Glaube an das Menschliche unerschütterlich war, gibt er am Ende auch dem Staat eine Chance:
„Vielleicht“, so räumt er ein, „wird auf dieser neuen Erde einst sogar ein Staat heraufdämmern, zu dem selbst ein Anarchist sich bekennen kann, ein Staat ohne Unterdrückung, ohne Gewalt, ohne Ausbeutung der Armen durch die Reichen, ein Staat des Friedens, des freundlichen Miteinanders, ein Staat, in dem der Mensch mit sich selbst und mit der Natur eins ist“.

Seit Beginn der 50ziger Jahre hat Reimar, ob als Redakteur der Zeitschrift „Natur und Heimat“, Schriftsteller oder praktizierender Naturschützer den Konflikt von Ideal und Wirklichkeit, von Geist und Macht persönlich erlebt und daran gelitten. In seinem verhinderten Beitrag zum X. Schriftstellerkongress der DDR im November 1987 hat er festgestellt: „Seit Wälder sterben, seit Tschernobyl, ist es zutiefst unmoralisch, kein Naturschützer, kein Warner zu sein,…“.

Ja, Reimar Gilsenbach war Moralist im besten Sinne, war unduldsam, war auch zornig, wenn es um die Bewahrung der Erde als Möglichkeit menschlichen Daseins – für ihn auch immer nur denkbar als Ort von Menschlichkeit – ging und wenn er dabei auf Dummheit, Ignoranz oder gar Gewissenlosigkeit stieß.
Reimar vertrat die Auffassung, Leben braucht zum Überleben Wahrheit und Wahrheit braucht Moral. Und er wusste: Wissenschaft kann angesichts der weltweiten Entwicklungen in Natur und Gesellschaften nicht mehr vordergründig gemessen werden am Erkenntnisfortschritt, sondern an der Sinngebung.

Die Ethik, im fortschrittsgläubigen 18. Jahrhundert aus der Wissenschaft weitgehend verbannt, muss in ihr wieder Einzug halten. Den Weg dazu sah Reimar Gilsenbach im öffentlichen Diskurs. So entstanden die „Brodowiner Gespräche“, die von den Obrigkeiten natürlich wieder als „übertriebener Ökologismus“ diffamiert und observiert wurden.

Aber noch mal zurück zum Stasi-Dossier: Was wurde ihm da noch vorgeworfen? Pazifismus, Eurokommunismus, Pseudo-Marxismus und Humanitätsduselei?

Ja, Reimar war tief und bis zuletzt durchdrungen von der Idee der Gewaltlosigkeit, der Gerechtigkeit, des respektvollen und friedfertigen Miteinander, der Ehrfurcht vor dem Leben.

Er hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er diese Idee, auch die der Aussöhnung von Mensch und Natur, immer in der Vision des Kommunismus gesehen hat. Diese Einsicht ist ihm nicht zugeflogen. Er hat den Marxismus besser gekannt als die meisten selbsternannten Gralshüter. Er hat nämlich im Gegensatz zu diesen die mehr als 40-bändige Marx-Engels-Werksausgabe wirklich gelesen. Und er hat immer wieder daraus zitiert. Was ihm im Land „der wissenschaftlichen Kommunismus“ – welch Ironie der Geschichte! – ständig Ärger einbrachte.

Ja, Reimar Gilsenbach hat sich zeitlebens für die Schwachen, Wehrlosen, Hilflosen eingesetzt. Sprichwörtlich war seine ausdauernde Unterstützung der Roma und Sinti und nicht zuletzt – und immer im verlässlichen Gleichklang mit seiner Hanne Gilsenbach – der indigen Völker.

Reimar und Hannelore, die aus Überzeugung selber nie Reichtümer angehäuft hatten, teilten ihr Weniges oft und gern mit diesen Schwächeren. So verstanden sie, versteht Hannelore Gilsenbach auch heute noch Solidarität. Mit dieser Haltung verstand sich Reimar auch stets als Anwalt der Natur. Bösartige nennen das Humanitätsduselei, für uns verkörpert das die Größe des Menschen, unseres Freundes und Vorbildes Reimar Gilsenbach.

Und nach der großen „Wende“?


Da hatte es zunächst einmal jegliche Literatur hier im Osten schwer, Verleger zu finden und Lohn und Brot einzubringen. Das war auch ein Preis, den die Freiheit und Marktwirtschaft kosteten. In der DDR war der Kultur- und Literaturbetrieb eben gehätschelt und umsorgt, solange er auf „Linie“ war. Das war nun schlagartig vorbei.

Reimar Gilsenbach beklagte diesen Einbruch nicht. In einem Brief von 1994 bemerkte er: „Sicher ist es schwierig, sich als freischaffender Autor zu behaupten, zumal mit Themen wie Naturschutz und bedrohte Völker. Was sich marktwirtschaftlich nicht rechnet, muss sehen, wo es bleibt. Andererseits gibt es heute Hunderte, wenn nicht Tausende Verlage, und die lieferbaren Titel übersteigen die Hunderttausend. Von einem solchen Spielraum für Literatur haben wir zu DDR-Zeiten nicht zu träumen gewagt. … Auf andere zu schimpfen, etwa auf den ‚Literaturbetrieb’, macht keinen Sinn, wenn wir nicht selbst produktiv sind, und das verlangt von Schriftstellern nun einmal Außergewöhnliches. Nur was wir veröffentlicht haben zählt.“

Reimar Gilsenbach schlug sich durch, schrieb und veröffentliche weiter, zog mit Liederprogrammen gemeinsam mit Hannelore durch die Lande, bewahrte seine geistige Freiheit. Seine große materielle Bescheidenheit half ihm dabei. Half ihm auch, zum Staat, zu Verwaltungen auf kritischer Distanz zu bleiben.

Unserer Freundschaft tat das übrigens keinen Abbruch, im Gegenteil! Wir hatten ja schließlich – jeder auf seine Weise – lange genug gelernt, was einem Staat geschieht, der keine Kritik zulässt. Eine gute Demokratie verträgt nicht nur kritische Distanz, nein, sie wird mit ihr besser.

Sechs Wochen nach eben zitiertem Brief konnte ich übrigens den ersten Brandenburger Literaturpreis Umwelt an Reimar übergeben. In seiner Entgegnung sagte er: „Wenn Wörter wie Natur, wie Umwelt, Ökologie oder auch wie Demokratie zu Worthülsen verkommen, wenn sie im Deutsch der Gedanken- und Bedenkenlosen boomen, so allemal, weil ein Verlust zu benennen ist, eine Entfremdung. Je allgemeiner und je verschwommener zugleich dieser Verlust wahrgenommen wird, desto ungenauer, inhaltsleerer werden die Begriffe.“

Mit Reimars eigenen Worten lässt es sich eben am besten ausdrücken, warum wir ihn brauchten – vor der Wende und danach! Und durch seine Worte lässt sich auch am besten begreifen, warum es gut ist, wenn sich ein Umweltbildungszentrum auf Dauer an seinen Maßstäben misst. Reimar Gilsenbach, dem Feinsinnigen und Verletzbaren, wurden unzählige Wunden geschlagen. Am Ende schien ihm unsere Lebensmitwelt bedrohter denn je.

Er schrieb einmal: „ ‚Was können wir tun?’ fragen mich manchmal junge Leute, selbst Kinder wissen ja heute schon um ihre Gefährdung. ‚Dafür sorgen, dass unsere Gattung in Würde stirbt’, bin ich dann zu antworten versucht“. Wer kann Reimar diese Versuchung verübeln? Aber wir wissen doch: Wer dem Menschlichen so nahe und so verbunden ist, wie es Reimar Gilsenbach war, hat auch einen unendlichen Glauben an die Selbstheilungskräfte im Menschen. Und so bleibt bei Reimar zuletzt ein Zutrauen, ein Vertrauen. Er schreibt: „Könnte es sein, dass ich irre? Wird die Natur einen Ausweg finden? Eine Überlebensnische für ihr Geschöpf, den Menschen? Zuzutrauen wäre es ihr. Aber nicht ohne unser Zutun.“ Wenn das für uns keine Botschaft ist, kein Auftrag! Für ein Umweltbildungszentrum allemal, denke ich.

Liebe Freunde, liebe Gäste!

Nur ein kurzer Blick auf das Leben, das reiche Lebenswerk Reimar Gilsenbachs war mir vergönnt, nur eine Sicht des Vermächtnisses zu geben, das den Akteuren des Hauses der Natur heute mit der Namensgebung „Reimar- Gilsenbach- Saal“ in die Hand gegeben wird.

Aber schon dieser kurze Blick auf den weiten Bogen des reichen, mühevollen, streitbaren, verlustreichen, an der Seite von Hanne auch erfüllten Lebens Reimar Gilsenbachs lässt ahnen, wie Weisheit entsteht.

Diese Weisheit Reimar Gilsenbachs zu entschlüsseln und zu hinterfragen, sie aufzuheben und weiter zu tragen, ist von jetzt an untrennbar mit den Aufgaben des Hauses der Natur, speziell mit dem Umweltbildungszentrum „Reimar Gilsenbach“ verbunden.

Ich bleibe gespannt auf interessante, hilfreiche, anregende Nachrichten aus dem Haus der Natur und wünsche auf dem weiteren Wege beste Erfolge