Hannelore Gilsenbach:


Liebe Freunde, liebe Weggefährten!

Drei Lieder als Dank für die Namensverleihung in diesem schönen, stimmungsvollen Raum.
Reimar Gilsenbach schrieb die Texte für unsere Programme „Zuspruch für Verletzbare“ und „Trostlied für Mäuse“ vor über 20 Jahren.
Sind sie deshalb veraltet?

„Unberechenbare Werte
In einer Welt des Notwendigen, in der alles berechenbar zu sein hat, auflistbar nach Tonnen und Kilowatt und Parametern – was kostet da der Gesang einer Lerche? Welchen Wert hat in dieser Welt ein Gedanke? Ein Lied? Gerechtigkeit? Ein anregendes Gespräch? Einige Minuten Muße? Welchen Nutzen bringt da das Zittern des Espenlaubs? Ein gaukelnder Schmetterling? Ein Scherz? …“

Fast wäre das folgende Lied 1986 über den Äther gegangen. Doch der Regionalsender Frankfurt/O. winkte ab: Zu kritisch!
Ein Lied, nicht nur für Kinder:


Das Lied vom Rechenmeister

Rechenmeister, Rechenmeister,
kannst nur deine Zahlen sehn,
aber nicht die Welt verstehn.
Kuckucksblume, Federgras –
sag, was kostet das?

Himmelschlüssel, Skabiosen,
roter Mohn und wilde Rosen,
Trauerfalter, Nashornkäfer,
Nachtigall und Siebenschläfer –
die kosten keine Gulden,
wir müssen sie nur dulden.

Rechenmeister, Rechenmeister,
kannst nur deine Zahlen sehn,
aber nicht die Welt verstehn,
Wolkenschaf und kühles Naß –
sag, was kostet das?

Frischer Wind und klarer Himmel,
saubre Bäche, Fischgewimmel,
schönes Land mit stillen Wegen,
grüne Wälder, guter Regen
sind viel mehr wert als Kronen,
drum wollen wir sie schonen.

Rechenmeister, Rechenmeister,
kannst nur deine Zahlen sehn,
aber nicht die Welt verstehn.
Unrecht tuen, Streit und Haß –
wieviel schadet das?

Frieden schaffen, niemand hassen,
jedem seine Freiheit lassen,
ehrlich sein, an andre denken,
Freundlichkeit und Liebe schenken –
das sollten wir versuchen,
kann´s auch kein Rechner buchen.

Rechenmeister, Rechenmeister,
kannst nur deine Zahlen sehn,
aber nicht die Welt verstehn.
Tanzen, springen, Spiel und Spaß –
sag, was kostet das?

Pläne schmieden, Unsinn machen,
über Pfennigfuchser lachen,
schwatzen, froh mit Freunden singen,
lustig sein und Traumgarn spinnen –
lehr den Computer Ringelreihn
und lade ihn zum Tanzen ein!

Rechenmeister, Rechenmeister,
willst du unser Lied verstehn,
mußt du mehr als Zahlen sehn:
Kuckucksblume, Federgras,
Wolkenschaf und kühles Naß,
Liebe schenken ohne Haß,
tanzen, springen, Spiel und Spaß –
das kostet keinen was.


(Brodowin, 23. Juni 1986)



Welche neuen Lieder, welche Texte hätte
Reimar geschrieben in den jüngstvergangenen Jahren? Heute?
Wären sie tröstlich ausgefallen, versöhnlich oder ironisch-bitter? Zornig? Verzweifelt?
Oder - wäre er verstummt?

Im Oktober 2000, ein Jahr vor seinem Tode,
eingeladen zu einer der letzten Mahnandachten in der Kirche zu Horno, sagte Reimar:

„Horno darf nicht sterben, erhaltet den Lebenden ihre Häuser und den Toten den Frieden
ihrer Gräber. Bangt um die Seele dieses Dorfes. Sie lässt sich nicht umbetten. Wer Horno
wegbaggert, baggert sein Gewissen weg.“

Längst ist die Kirche zu Horno vergangen –
im Rauch von Nebelkerzen, im Knall der Sprengladungen.
Waren da noch Gewissen, vor den Baggern?
Und wo fände man sie heute?
Beim Planschen in der größten Badewanne der Welt, unweit der Kohlebagger von Horno?
„Tropical Islands“: Tropenwaldparadies in der Lausitz, (wer brauchte das nicht?) installiert in dünnwandiger Industriehalle.
Größte anzunehmende Eulenspiegelei bestallter Energie-einspar-ver-ordnungs-ausleger.
Größter anzunehmender Hohn auf die weltweite Vernichtung der Tropenwälder (angeführt vom Investorland Malaysia).
„Nachhaltige“ Klimapolitik auf brandenburgisch?

Welche neuen Texte hätte Reimar Gilsenbach geschrieben? Wie wären sie ausgefallen?
Angesichts auch von über 3 000 deutschen
Soldaten, die heute in Afghanistan „deutsche
Sicherheits- (und Rohstoff-) interessen verteidigen“? Der Särge, die zurückkehren?
Reimar Gilsenbach, Deserteur der Nazi-Armee, befürchtete noch auf seinem Sterbebett, dass es zu diesem Krieg kommen werde.

Die Welt der Menschen aus der Sicht eines Tieres:

Klage der Nachtigall

Unter dem silbernen Mond
flötet die Nachtigall.
Dort, wo die Wehmut wohnt,
tönt ihr verliebter Schall,
knispert und knerbelt und juchzt,
jubelt und schmettert und schluchzt.
Unter dem silbernen Mond –
bleib, ach bleib, Nachtigall.

Eure Städte sind Beton,
eure Hirne Uniformen.
Dröhnend hämmert Rockersong,
irre Lust erstarrt in Normen.
Sagt, wie soll mein zärtlich Singen
in ertaubte Ohren dringen?

Eure Äcker fett und groß,
leeres Abbild der Maschinen.
Eure Gier ist gnadenlos,
jeder Grashalm muß euch dienen.
Sagt, wo soll mein leises Juchzen bleiben
und mein lautes Schluchzen?

Unter dem silbernen Mond . . .

Baum und Strauch in Reih und Glied,
schwere Luft voll Rauch und Frevel,
Wälder, die das Leben flieht,
trübe Flüsse atmen Schwefel.
Sagt, wo mag in Flötentönen
ich noch schlagen, jauchzen, stöhnen?

Unter dem silbernen Mond
flötet die Nachtigall.
Dort, wo die Wehmut wohnt,
tönt ihr verliebter Schall,
knispert und knerbelt und juchzt,
jubelt und schmettert und schluchzt.
Unter dem silbernen Mond –
bleib, ach bleib, Nachtigall!

(Tallin, 26. September 1986)

Reimar wollte nie und nimmer eine „Gilsenbach-Allee“ nach seinem Tod; auch keine „Gilsenbach-Straße“. Bestenfalls ein „Gilsenbach-Gässchen“.
Nun bekommt er kein Zimmerchen, sondern einen Saal – so kurz vor seinem 82. Geburtstag. Sei´s denn drum, würde er sagen. Und sich trotzdem freuen.

Und uns bleibt zu hoffen, dass ein Stück Gilsenbach´schen Widerspruchsgeistes, seines Pazifismus, seiner Natur- und Menschenliebe in diesen Wänden weiterzuleben vermag.


Abgesang auf die Rohrdommel

Bevor der Mensch den Krieg erschuf,
erschuf das Schilf den Dommelruf.
Der Ruf erstarb, das Röhricht schreit:
Du Mensch lebst nicht in Ewigkeit.

Du Mensch lebst nicht in Ewigkeit,
leg ab den Stolz, mach dich bereit,
demütig wie ein Lamm zu sein,
sei Herz zu Herz, nicht Stein zu Stein.

Sei Herz zu Herz, nicht Stein zu Stein,
dann gehst du in das Leben ein,
wirst Dommelruf und schwankend Rohr
und stirbst wie sie als reiner Tor.

(Brodowin, 1. Juni 1986)


Zugabe: Das Lied vom Nachruhm