Reimar Gilsenbach: Wer im Gleichschritt marschiert, geht in die falsche Richtung. Ein biografisches Selbstbildnis. Herausgegeben von Hannelore Gilsenbach und Harro Hess. Berlin/Bonn: Westkreuz-Verlag, 2004.

332 Seiten, 35 Abb., Hardcover, 19,- Eur; ISBN 3-929592-69-X

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Inhalt:
So viel Ameise, so wenig Selbst • Mit der Muttermilch getrunken • In den Hochverratsfall Meves verstrickt • Dem Führer entkommen • Drei Jahre hinter Stacheldraht • „Sächsische Zeitung“ – meine Universität des Lügens • Geist mit Liebe trotz Trümmern und Hunger • Staat und Partei schlagen zu • Schlachtgetümmel an der Kulturfront • Der Punsch, die Mauer, der Freischaffende • Naturschützer, leicht ausgeflippt, und „Zigeunerfreund“ • Schriftsteller unter Schriftstellern in der DDR • Im Umfeld Biermanns und Havemanns • Wohin sich wenden nach „Wende“ und „Nachwende“ • Stasi-Rückblick: 1984-1988 • Stasi-Rückblick: 1952 und späte Folgen • Versöhnung • Nachwort • Anhang


Das Versprechen
„Buba“, sagte Vater, „Soldaten sind böse. Sie schießen Menschen tot. Wenn du groß bist, dann werde nie Soldat! Versprichst du es mir?“
„Versprochen“, antwortete Buba. Da war er sechs.

Hauptthema der Autobiografie Reimar Gilsenbachs ist sein Crash-Kurs mit dem jeweiligen deutschen Staat. Dies begann 1925 mit seiner Geburt: Gilsenbach erblickte das Licht der Welt in einer Siedlung von Öko-Anarchisten, unter ihnen Anhänger Silvio Gesells. In zwei deutschen Diktaturen und in der Sowjetunion machte Gilsenbach seine Erfahrungen mit den jeweiligen Geheimdiensten: Gestapo, NKWD und DDR-Staatssicherheitsdienst – siebeneinhalb Jahrzehnte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts aus der kritischen Sicht eines Zweiflers.

Im März 1944 lief Gilsenbach zur Roten Armee über und kam zu einer deutschen Frontgruppe auf sowjetischer Seite. 1947 erzwang er die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, indem er Blindheit simulierte.
Gilsenbach hat nie einen ordentlichen Beruf erlernt, nie studiert. Seine „Universität des Lügens“ absolvierte er bei der „Sächsischen Zeitung“ in Dresden. Sie endete im Januar 1951 mit seiner fristlosen Entlassung.
Von 1952 bis 1962 redigierte Gilsenbach die Kulturbundzeitschrift „Natur und Heimat“. Nach ihrem Exitus zog er nach Brodowin an den Rand des Naturschutzgebietes „Plagefenn“. Seitdem schlug er sich als freischaffender Schriftsteller durch.

1964 lernte Gilsenbach Wolf Biermann und durch ihn Robert Havemann kennen. Die Freundschaft mit ihnen bestimmte sein zunehmend kritisches Verhältnis zur DDR.
Gilsenbach beschreibt sein Leben wirklichkeitsgetreu, in Teilen durch Dokumente belegt. Er ist kritisch auch gegenüber sich selbst. Der Schuss Witz und Ironie, den er als Würze hinzufügt, ergibt sich in der Regel aus der Sache: Die Geheimdienstler boten trotz all ihrer Verbrechen oft einen Zug ins Groteske, ins Komische.
Drei Grundanliegen bestimmten Gilsenbachs Leben: Seine Plädoyers für die gefährdete Natur, seine Solidarität mit verfolgten und bedrohten Menschen, insbesondere mit Sinti und Roma, und sein unbedingtes Eintreten für Gewaltlosigkeit und Frieden. Aus diesen drei Anliegen leitet sich Gilsenbachs strikter Antimilitarismus her; vorgeprägt durch seine Anarcho-Geburt. Wann auch immer die Staatsdoktrin zu Verbrechen führte oder Lügen in ewige Wahrheiten verkehrte, entschied Gilsenbach sich gegen den Staat und folgte der Stimme seines Gewissens.


So viel Ameise, so wenig Selbst (Zum Geleit)
Gott sah, die Ameisen werden zu viele. Gewimmel, ein Chaos. „Hör zu“, sprach er zur großen Eierlegerin, „du mimst von nun an die Königin. Du befiehlst, die anderen gehorchen, du, die einzelne, herrschst, die blinde Masse sei dir untertan. Ab sofort bildet ihr einen Staat, allen Ameisen zum Wohl und – damit ich meine Ruhe hab.“
Als aber die Menschen sich wie Ameisen ins Ungezügelte vermehrten, schuf Gott auch für sie den Staat. Was für Ameisen wohlgetan war, stürzte Homo sapiens in Höllenpein. Statt eine Art von Staat, bosselten sie deren viele: Staaten, die übereinander herfielen wie die Besengten.
„Was habe ich nur falsch gemacht?“, seufzte Gott und sah, dass es schlecht stand.
„Als Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis genascht haben …“, versuchte Satan den Schöpfer auf die Fährte zu bringen.
„Verbotener Weise!“, fiel Gott ihm ins Wort.
Satan feixte. „Unbotmäßig gegen den HERRN? – jai, jai, jai!“, sprach er mit gespielter Entrüstung. „Statt sie aus dem Paradies zu vertreiben, hättest du deine missratene Brut erschlagen sollen. Eine neue Gattung zu schaffen, nach Art der Ameisen, verspricht mehr Erfolg, als an den Abkömmlingen Evas herum zu doktern. Sieh nur, wie blöd sie deine Staatsidee verbockt haben!“

Ameisen laufen am Schnürchen ihres Instinkts; Menschen denken, fühlen, lehnen sich auf, intrigieren. Alle Evasöhne sind gierig nach Mammon, viele streben nach Macht, sehr wenige nach Weisheit; alle Evatöchter sind klatsch- und putzsüchtig, mehr Püppchen als Weib, im Ernstfall meißeln sie „Gefallen auf dem Felde der Ehre“ in die Grabplatten ihrer Söhne. Dient der Staat ihrem Eigennutz, dann brüllen man wie frau „Sieg Heil!“ oder „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ oder „Helmut, rette uns!“ Stört er sie, dann hinterziehen sie Steuern auf Deibel komm raus und schröpfen die Staatskasse, wo sie nur können.

Je ameisenhafter die Untertanen, desto besser für die Sicherheit des Staates, je menschlicher, desto schlimmer. Daraus folgt: Je mehr du ICH bist, je weniger bloßes Rädchen im Getriebe, je weniger Ameislein im Gewimmel, desto eher gerätst du in die Schrotmühlen der Staatssicherheitsdienste aller Coleur. Hüte dich! Auf tausend Denunzianten kommt nicht ein Gerechter.

Geboren bin ich im September 1925 unter frei praktizierenden Anarchisten, eine Art Landkommune für Kohlenpottjugendliche. Reformmode, Nacktheitslust und ungebundene Liebe, Vorläufer-Öko-Freaks, Wandervogellieder und Wandervögelei in sandiger Heide. Eine Mutter, die für alles Gute und Schöne schwärmte, und ein Vater, der so anarchistisch war, dass er nicht einmal einem Anarcho-Klub beitrat.
Anarchisch – im Wortsinn: ohne Herrschaft, ohne Macht, ohne Gewalt, ohne Zwang.

Und dieser so vielversprechend gezeugte, heidnisch-frohe Bub geriet in die machtgierigsten, gewalttätigsten, sicherheitsversessensten aller deutschen Staaten. Nacheinander sollte er Mitglied werden im Jungvolk, in der Hitlerjugend, im Reichsarbeitsdienst, in der Wehrmacht, in einer deutschen Frontgruppe auf sowjetischer Seite, in Lageraktivs des Nationalkomitees Freies Deutschland, in der SED und den ihr verbundenen Organisationen von der Freien Deutschen Jugend bis zum Schriftstellerverband, von der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft bis zur Gesellschaft für Natur und Umwelt. Liest der Graukopf, der das alles ab- und mitgesponnen hat, diese Liste, so kommt ihn das Grausen an. Das war dein Leben? So viel Ameise, so wenig ICH und WIR und SELBST?

Gestapo, HJ-Gericht, NKWD1 , Stasi lass sehen, wie die Sicherheitsdienste dir mitgespielt haben und wie du mit ihnen gespielt hast. Keinen Tag im Knast gehockt? Nicht in Buchenwald? Nicht in Torgau? Nicht in Bautzen? Von den drei GULAG-Jahren, den selbst verbockten, mal abgesehen. Schäme dich! Und untersteh dich, mit den sieben mal sieben Toden zu prahlen, die sie dich hätten sterben lassen, wenn du nicht so fuchsschlau gewesen wärest, ihnen zu entwischen! Style dich nicht zum schafsbraven Narren des Widerstands hoch, wo du nur zu oft mit den Wölfen geheult hast.

Was lehrt uns das? Ich, Graukopf, fürchte, gar nichts. Die Jungen kann kein Aas davon abhalten, ihren eigenen Bockmist zu verzapfen. Keinen Ratschlag, wie sie immer mehr Staat entgehen und immer mehr SELBST finden könnten, werden sie annehmen, noch dazu von einem ollen Zottelbart, der so versponnen ist, sich nach wie vor für einen Öko-Anarchisten zu halten, allen gegenteiligen Mutmaßungen und Beweisen zum Trotz.

1 NKWD, das: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR.